Avantgarde in Weisenau

Als gestern mein Telefon klingelte wollte ich erstmal nicht drangehen. Zu viel zu tun: die Bilder von Braunschweig immer noch nicht fertig, Mails, die auf Antworten warten, Essen, das zu mir genommen werden wollte, und ein Einkauf, der noch erledigt werden wollte. Manchmal sind Samstage halt nichts Entspannendes. Aber als ich auf Display schaute, sah ich die Nummer eines alten Bekannten aus Hamburg, der als Tourmanager arbeitet. Coole Überraschung, wir haben uns schon paar Jahre nicht gesehen, also habe ich das Gespräch angenommen. Nach dem üblichen Vorgeplänkel, kam er dann mit dem Grund seines Anrufes. Er ist gerade mit einer islandischen Avantgardeband auf Urlaubstour unterwegs, d.h. sie spielen nicht, sondern fahren durch Europa und sammeln Eindrück für ihre Platte. Und sie sahen irgendwo im Netz meine Fotos und wollten unbedingt was mit mir machen. Tierisch, dachte ich mir. "Wann wollt Ihr denn vorbei kommen? Nächste Woche habe ich noch einen Tag frei." Er meinte dann ganz trocken: "Jetzt, wir sind gerade in Wiesbaden. Wie ist Deine Adresse?" Tja, Ablehnen wäre uncool, wer weiß, vielleicht ist es ja ganz geil, wir haben dann alle Spaß und am Ende kommt auch noch was dabei rum. "Ok, kommt mal längs, wir unterhalten uns erstmal." Halbe Stunde später saßen sie zu dritt in unserer Wohnung. Das fragliche Duo, sehr still, wodurch sie mir sofort ganz sympathisch erschienen, und mein alter Bekannter. Ich fragte, ob sie was trinken wollen, worauf Ølå, die Sängerin, Keyboarderin und Schlagzeugerin gleichzeitig ist, auf ihre Smartwatch schaute und ganz knapp sagte (auf englisch): "Es ist schon 11 Uhr. Hast Du Alkohol?" Mærƙ, der Geige, Kazoo und Bass spielt, seufzte irgendwas vor sich hin und nickte leicht defätistisch. Ich gab ihnen von meinem besten Rum, die Flasche kostet einen Fuffi, Ambrosia sozusagen, und sie schienen erstmal zufrieden. Wir unterhielten uns eine Weile. Ich erfuhr, dass sie bereits seit 4 Jahren an ihrem ersten Album arbeiten, die Plattenfirma aber so von dem Zeug angetan ist, dass sie alle Verzögerungen in Kauf nimmt, weil sie hofft, mit diesem Projekt die Welt in Handumdrehen zu erobern. Der Name ihrer Band ist "Kötturinn fer úr hárum" und soll eine hochmetaphorische Reminiszenz an die Hedgefonds der Wallstreet und Katzen sein. Weil Katzen sind ja Internet. Ich muss wohl während des Gesprächs mehrfach einen leicht verwirrten Eindruck gemacht haben, aber wenn Rum zur Hand ist, kann man das dann leicht überspielen. Wir unterhielten uns über Kunst und das Leben an sich, ihre Vorstellungen von den Fotos und welche Stimmung sie haben sollen. Ich ließ mir auch 3 Songs vorspielen, manchmal kommen da einem Bildideen, die man umsetzen könnte. Allerdings waren die Assoziationen mit der Musik, derart verstörend, dass ich noch etwas mehr trinken musste. Um ehrlich zu sein, wollte ich am Liebsten die Laster meiner Vergangenheit wieder ins Leben rufen, um das Ganze mental irgendwie zu überstehen.  Da ich aus der Geschichte nicht mehr rauskommen konnte, ergriff ich die Flucht nach vorne und sagte Ihnen, dass wir loslegen sollten, bevor das Wetter schlechter wird (sprich: bevor ich dem Wahnsinn völlig anheimfalle.) Ich zeigte Ihnen das Equipment, das uns zur Verfügung stand, worauf Ølå fragte, mit welcher Kamera es denn am kompliziertesten sei. Die Linhof, sagte ich, und zeigte auf das 4 kg Ungetüm. Sie lächelte nur knapp sichtbar. "Wunderbar", sagte sie, "wir möchten es so kompliziert wie möglich. Das sollte zu uns passen." Wir zogen los in den Steinbruch von Weisenau, ich wollte meiner Trostlosigkeit, die ich nach dem Hören ihrer Songs verspürte, unbedingt Ausdruck verleihen. Ich glaube es ist ganz ok geworden, sie waren zufrieden und ich froh, wieder alleine zu sein. Ich habe bloß das Gefühl, dass ich nie wieder nüchtern sein will. Und ihre Plattenfirma, so unglaublich das klingt, weil ich zu keinerlei positiven Gefühlen zu Angestellten der Musikindustrie fähig bin, tut mir ein bißchen Leid. Ich glaube, das ist die letzte Band, die sie unter Vertrag genommen haben.

 

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